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Der Rapper Haftbefehl: Ein Thema für den Schulunterricht?

Der Deutsch-Lk 12 hat sich mit der derzeit in der medialen Öffentlichkeit diskutierten Frage beschäftigt, ob der Rapper "Haftbefehl" im Deutschunterricht in der Schule behandelt werden sollte. Hierzu wurden u.a. seine Biographie, Songtexte sowie aktuelle Zeitungsartikel und Kommentare untersucht. Als Abschluss haben die Schülerinnen und Schüler schriftlich eine Erörterung (Pro / Contra) verfasst, um damit einen Beitrag zur öffentlichen Debattenkultur zu leisten.
Man sieht eine Statue von Justicia, die mit verbundenen Augen rechts und links die Waage hält
Datum:
16. Dez. 2025
Von:
Maximilian Gerisch

Pro Haftbefehl spricht die Schattenseiten unserer Gesellschaft aus, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen (von Hanna Liepe)

 

„Chabos wissen, wer der Babo ist“ – so oder so ähnlich haben wohl die meisten von uns den deutschen Rapper Haftbefehl im Kopf: selbstbewusst, laut und vielleicht auch aggressiv. Erst vor einigen Wochen erregte die neue Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ große Aufregung, in welcher der Musiker ungefiltert von seinem Leben erzählt, mit allem, was dazugehört: Drogen, Kriminalität, Gewalt und irgendwo dazwischen sein rasender Aufstieg in die Charts. Auf einmal hatten die Menschen jemanden, der die Schattenseiten unserer Gesellschaft ausspricht, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Jemanden, der es versteht, das in Musik zu verpacken, was andere totschweigen.

Am liebsten würden wir alle denken, dass das Leben in sozialen Brennpunkten und die damit verbundene Kriminalität, denen untere soziale Schichten ausgesetzt sind, weit weg ist – in Amerika vielleicht, aber in Deutschland bloß nicht. Dabei haben wir genau das praktisch direkt vor der Haustür: Keine zwei Stunden von Hargesheim entfernt, in Offenbach, wächst Haftbefehl, gebürtig Aykut Anhan, genau so auf. Und gerade deshalb kommt er in der Musikszene so unglaublich gut an, weil er aus erster Hand erzählt, wie ein Leben in Deutschland auch laufen kann.

Aber gehört dieses Leben in unser Klassenzimmer? Betrifft uns das überhaupt, obwohl die meisten von uns wahrscheinlich noch nie mit Drogen oder Kriminalität im eigenen Wohnumfeld in Berührung gekommen sind? Sollten Menschen wie Aykut, die für viele keinesfalls als moralisches Paradebeispiel gelten, Platz in unseren Schulbüchern finden?

Meiner Meinung nach lautet die Antwort: Ja!

Als Schüler:innen der zwölften Klasse haben wir uns über die letzten Jahre ständig und ausführlich mit diversen gesellschaftspolitischen Themen auseinandergesetzt – warum dann nicht – statt Goethe oder Schiller – Aktualität in den Unterricht bringen, und das dann sogar in Form von Musik?

Zunächst einmal eröffnen sich vielseitige Anwendungsmöglichkeiten von Haftbefehls Musik. Naheliegend ist natürlich das Untersuchen von Rhythmus und Lyrics, also wie es der Rapper schafft, seine Message als Refrain, der für die nächsten zwei Wochen im Ohr bleibt – auch wenn man diese Musikrichtung gar nicht mag – zu verpacken. Aber auch im Deutschunterricht finden seine Texte Platz. Themen, die in Haftbefehls Songs oft im Mittelpunkt stehen, wie Sexismus oder Antisemitismus, müssen kritisch reflektiert werden, genauso wie wir es auch mit hundert Jahre alten Texten tun.

Dieser Ansicht ist auch Deutschlehrer Dennys Jochum. Laut ihm stecken solche Problematiken genauso in Goethes „Faust“, in welchem die 14-jährige, wehrlose Gretchen eine romantische Beziehung mit dem 50-jährigen Heinrich Faust führt.

Meiner Meinung nach sollte der Fakt, dass Textstellen aus Haftbefehls Songs bei vielen Menschen negativ aufstoßen und wohl eher Stirnrunzeln als gute Laune hervorrufen, kein Grund sein, diese zu ignorieren, sondern vielmehr ein Ansporn, sich damit auseinanderzusetzen, zu verstehen, zu hinterfragen und auch zu kritisieren. All das sind Fähigkeiten, die jungen Menschen beigebracht werden müssen, statt ihnen immer nur Musterbeispiele vor die Nase zu halten und Realitäten zu verharmlosen. Denn Sexismus, Rassismus und Antisemitismus stecken nicht nur in alten Schulbüchern, sondern begegnen uns auch im Alltag – sei es in Interaktionen auf offener Straße, im Internet, beim Weihnachtsessen mit der Familie, wenn die Konversation mal wieder zu politisch wird, oder eben in Musik.

Deshalb ist es nur richtig, sich vor diesen Themen nicht zu verstecken, sondern sie anhand aktueller Beispiele zu besprechen. Dazu kommt, dass Haftbefehls Leben, das er in seinen Songs verarbeitet, für viele Menschen sehr nahbar ist, so zum Beispiel auch für die Mehrheit der Schüler:innen in Offenbach.

In deren Namen spricht Stadtschülersprecher Luca Dobita. Laut ihm gehören die Schattenseiten ihrer Stadt, die Haftbefehl thematisiert und repräsentiert, zur „kulturellen DNA“. In den Raptexten fänden sich Identität, Zugehörigkeit und Bildungsgerechtigkeit. Für den Schüler:innenrat der Stadt ist klar: Die Vielsprachigkeit der Lyrics sei ein Ausdruck postmigrantischer Identität, die ihre Heimat präge und ihre Vielseitigkeit aufzeige.

Aus diesen Gründen finden der Schüler:innenrat und viele andere Stimmen auch, dass Rapper „Hafti“ die Stimme einer ganzen Generation sei und dass Lebensrealitäten wie seine, die für so viele in genau der Sekunde, in der du das hier liest, Alltag sind, Platz im Unterricht finden sollten, um über Gefahren aufzuklären. Negativbeispiele wie Aykut, der beinahe sein Leben durch seine Alkohol- und Drogenabhängigkeit verloren hätte, sind wichtig für Schüler:innen, um ihnen das oftmals nicht bewusste Ausmaß von Rauchen, Trinken und Kiffen vor Augen zu führen.

Denn oft wird dieser Aufklärung über diese unschönen Themen lieber bequem aus dem Weg gegangen, weil es – wie es schon Unzählige zuvor getan haben – einfacher ist, hunderte Jahre alte Bücher zu behandeln, als sich intensiv mit aktuellen Thematiken zu beschäftigen und diese richtig an junge Schüler:innen weiterzugeben.

Außerdem ist es angemessen, den Unterricht in einem gewissen Rahmen an die Bedürfnisse der Schüler:innen anzupassen, um Interesse zu wecken und zum selbstständigen Nachdenken anzuregen. Ich persönlich denke nämlich, dass Personen, die aktuell wichtige Themen ansprechen – wie Haftbefehl eben – jungen Menschen wie mir länger im Kopf bleiben, weil ich den Umgang mit Drogen- und Alkoholproblemen, Kriminalität und Rassismus in unserer Gesellschaft anders hinterfrage, als wenn wir zum zehnten Mal den Namen Immanuel Kant im Klassenraum hören (ohne jenem seine Wichtigkeit absprechen zu wollen).

Um es mit den Worten des Schüler:innenrats Offenbach zu sagen:
„Wer junge Menschen erreichen will, muss ihre Sprache sprechen – auch wenn sie nicht fehlerfrei ist.“

Denn meiner Auffassung nach ist unsere Gesellschaft alles andere als fehlerfrei. Auch wenn immer von Chancengleichheit und Toleranz gesprochen wird, erleben nicht alle Menschen in Deutschland eine sichere, gewaltfreie Kindheit ohne Berührungspunkte mit Alkohol oder Drogen und damit oftmals keinen einfachen Lebensweg. Ich finde, dass gerade junge Menschen für dieses Thema sensibilisiert und dazu angeregt werden sollten, in Zukunft etwas an den Lebensrealitäten zu ändern. Dafür sehe ich die Schule, die bei uns in Deutschland zum Glück für jeden zugänglich ist, als optimales Medium.

 

 

Contra Haftbefehl gehört nicht in den Unterricht, weil sich seine Texte nicht mit den Bildungszielen der Schule vertragen (von Tara Schug)

Die Forderung, den Rapper Haftbefehl und seine Texte im Unterricht zu behandeln, sorgt derzeit für große Aufmerksamkeit. Mit polarisierenden Songs, wie „Chabos wissen wer der Babo ist“ (2013) und „Kanackis“ (2012) wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Mit über 5 Millionen monatlichen Hörern auf Spotify erreicht der Künstler eine enorme Bandbreite an Menschen.  Gerade deshalb steht die Frage im Raum, ob eine so einflussreiche Figur, die einerseits festen Platz in der Jugendkultur hat, andererseits aber durch Darstellungen von Gewalt, Drogenkonsum und Kriminalität auffällt, tatsächlich in den Lehrplan gehört.

Aus meiner Sicht gehört Haftbefehl nicht in den Unterricht, weil sich seine Texte und seine öffentliche Inszenierung nicht mit den zentralen Bildungszielen der Schule vertragen. Schon ein Blick auf die Diskussion zeigt, dass der Rapper vor allem wegen seiner vulgären Sprache, frauenverachtenden Texten, sowie der ständigen Glorifizierung eines brutalen und gesetzesfeindlichen Lebensstils auffällt.

 

Wie auch das hessische Kulturministerium sagt, ist es gerade deshalb problematisch, Haftbefehl in den Unterricht zu holen. Seine Songs leben von einer Ästhetik, die Konflikte, Gewalt und Grenzverletzungen nicht nur beschreibt, sondern häufig als Teil eines Images inszeniert. Wenn solche Inhalte zum Teil des Unterrichts werden, besteht die Gefahr, dass die Distanz zwischen kritischer Analyse und ungewollter Faszination schwindet. Ganz gleich wie sehr sich ein/e Lehrer/in bemühen mag, ist es nicht immer abzusehen, wie Schüler auf solche Inhalte reagieren. Ein kritisches und reflektiertes Hinterfragen ist nicht gewährleistet.

Unterricht müsste eigentlich Orientierung geben – doch Haftbefehls Stil erzeugt eher Verwirrung: Er fordert Aufmerksamkeit durch überzogene Selbstinszenierung, gezielte Provokationen und wiederholte sprachliche Grenzverletzungen, die weder als Vorbild dienen, noch irgendeinen Bildungswert besitzen.

Hinzu kommt, dass die Schülerschaft äußerst vielschichtig ist. Während ein kleiner Teil der Jugendlichen möglicherweise einen Zugang zur Lebenswelt, die Haftbefehl darstellt, findet, fühlen sich viele andere durch diese Form von Ausdruck einfach überfordert, abgestoßen oder falsch adressiert. Unterricht aber soll gemeinsame Orientierung bieten und nicht Konfliktlinien verstärken. Wird ein Künstler behandelt, dessen Texte so stark von Gewalt, Außenseitertum und Misogynie geprägt sind, dann wird automatisch eine Atmosphäre geschaffen, in der nicht alle Schüler/innen gleichermaßen mitgenommen werden können. Das widerspricht grundlegend dem Anspruch eines inklusiven Unterrichts.

Auch die öffentliche Reaktion zeigt – unabhängig von ihrer Bewertung –, wie stark Haftbefehl polarisiert. Von Kommentaren wie „Idol, das keines ist“ bis hin zu der Einschätzung, solche Inhalte gehörten „in die Sondermülltonne“ wird deutlich, dass der Rapper eher Abwehr als Verständnis hervorruft. Zwar ist es nicht Aufgabe der Schule, sich nach den Stimmungen und den Forderungen wahlloser Personen zu richten, doch sie muss berücksichtigen, ob ein Thema geeignet ist, ein lernförderliches Klima herzustellen. Bei einem Künstler, der derart spaltet, ist das kaum möglich.

Ein besonders schwerwiegender Grund gegen die Behandlung Haftbefehls im Unterricht liegt in der ausgeprägten Frauenfeindlichkeit in vielen seiner Texte. In Liedern wie „Kanackis“ (2012) erscheinen Frauen nicht als eigenständige Personen, sondern werden konsequent sexualisiert, entwertet und als Objekte männlicher Machtdemonstration dargestellt. Die Sprache ist nicht nur vulgär, sondern offen demütigend und beschreibt sexualisierte Gewalt und bewusste Erniedrigung als Teil eines übersteigerten Männlichkeitsbildes. Untreue und Fremdgehen werden in diesem Text sogar zum Ideal erhoben. Solche Darstellungen widersprechen grundlegenden Werten der Gleichberechtigung, Respekt und partnerschaftlichem Umgang, die die Schule vermitteln sollte.

Es gibt zahlreiche zeitgenössische Künstler/innen, die gesellschaftliche Missstände reflektieren, ohne Gewaltästhetik oder Drogenkonsum als Stilmittel für Aufmerksamkeit zu nutzen. „ANNA“ von Freundeskreis oder „Privilegiert“ von Samy Deluxe sind Beispiele dafür.                                                         Wer im Unterricht auf moderne Musik oder (groß-)städtische Kultur eingehen will, kann genügend Alternativen finden, die für pädagogische Ziele wesentlich geeigneter sind.

Insgesamt zeigt sich deutlich, dass Haftbefehl kein Material bietet, das der Schule nützen könnte. Gerade weil die Schule ein Ort ist, an dem junge Menschen Orientierung und Struktur erhalten sollen, muss sorgfältig entschieden werden, welche öffentlichen Erscheinungen dort thematisiert werden. Bei Haftbefehl überwiegen die Risiken eindeutig.                                                                                                Weder sprachlich noch inhaltlich besitzt sein Werk das Potenzial, Jugendliche in ihrer Entwicklung zu stärken oder zu verantwortungsvoller Reflexion anzuregen. Stattdessen fördern seine Texte Hass, Unsicherheit und im schlimmsten Fall eine unklare Haltung gegenüber Gewalt und Kriminalität.